Dr. Walter Rüegg
1. Radioaktivität: Grundlagen und natürliche Vorkommen
Dr. Walter Rüegg ist promovierter Kernphysiker und war u. a. an der ETH Zürich sowie bei der ABB tätig. In seinem Gespräch mit Prof. Dr. Eduard Heindl erläutert er eingangs die Grundbegriffe der Radioaktivität und betont, dass sämtliche Materie natürliche Zerfallsprozesse aufweist. Die wichtigsten Strahlungsarten sind:
- Alphastrahlen (schwere, positiv geladene Teilchen, reichen nur wenige Zellen tief und sind in der Regel nur gefährlich, wenn man sie einatmet oder verschluckt),
- Betastrahlen (Elektronen oder Positronen, die etwas weiter in Materie eindringen können),
- Gammastrahlen (hochenergetische Photonen, die materiell „durch alles hindurchfliegen“ und nur selten Treffer landen, dann aber einen langen Ionisationsweg im Gewebe hinterlassen).
Obwohl man Radioaktivität nicht direkt fühlen kann, ist sie physikalisch sehr leicht messbar, weil sie Atome ionisiert und so Messinstrumente einfach reagieren können. Die Natur hat hingegen für den Menschen kein eigenes „Strahlungssinnesorgan“ vorgesehen, weil natürliche Strahlung in typischen Umgebungen selten ein unmittelbares Überlebensproblem darstellt.
Natürliche Strahlenquellen
- Kalium-40 im menschlichen Körper: Jeder Mensch hat rund 10.000 radioaktive Zerfälle pro Sekunde in sich, vor allem durch das Isotop Kalium-40, das sich bevorzugt in den Muskeln befindet.
- Gesteine und Radon: Manche Gesteine wie Granit enthalten mehr Uran oder Thorium. Zerfallsreihen führen oft zum Edelgas Radon, das in Kellerbereichen konzentriert auftreten kann. Die Bewertung der gesundheitlichen Gefahr durch Radon ist jedoch komplex, zumal Studien oft durch Faktoren wie Rauchen oder unklare Messzeiträume verzerrt werden.
- Kosmische Strahlung: In großer Höhe (z. B. in Flugzeugen) herrscht deutlich mehr Strahlung als am Boden. Piloten und Flugbegleiter sind hier einer höheren Dosis ausgesetzt. Statistisch zeigt sich jedoch keine auffällige Zunahme an Erkrankungen, was darauf hindeutet, dass diese Dosismengen biologisch gut kompensiert werden.
2. Biologische Wirkmechanismen: Zellschäden und Reparatur
Radioaktive Strahlung kann Zellen schädigen, indem sie Atome und Moleküle ionisiert oder gar zerschlägt. Allerdings ist der menschliche Körper daran gewöhnt, permanent eine hohe Zahl von DNA-Schäden zu reparieren – vor allem hervorgerufen durch Sauerstoff-Stoffwechsel und freie Radikale. Jede Zelle besitzt ausgefeilte Mechanismen, die Schäden entweder reparieren oder die Zelle in den programmierten Zelltod schicken (Apoptose), falls die Fehler zu gravierend sind.
Krebsrisiko und Mutationen
Langfristig ist eine wesentliche Sorge, dass Strahlung – neben vielen anderen Schadfaktoren wie Rauchen, Chemikalien, Feinstaub etc. – das Auftreten von Mutationen begünstigen kann. Allerdings braucht es meist viele verschiedene Mutationsschritte und etliche Jahrzehnte, bis eine Zelle tatsächlich entartet (Krebs). Der Körper besitzt zudem ein starkes Immunsystem, das viele „krebsverdächtige“ Zellen frühzeitig eliminiert.
Keine absolute Nullgrenze
Ob und inwiefern es für Strahlenschäden eine Schwellendosis gibt, ist umstritten. Das gängige Modell (LNT, Linear No Threshold) geht davon aus, dass selbst kleinste Dosen noch einen linearen Schaden verursachen. Demgegenüber steht das Konzept der Hormesis, das annimmt, sehr geringe Dosen könnten sogar stimulierend auf Reparaturmechanismen wirken. Als Indiz für Letzteres werden Studien zu Radon-Heilbädern oder zum Beispiel in Taiwan versehentlich mit Kobalt-60 verseuchter Baustahl angeführt, wo bei niedriger Dosis tendenziell weniger Krebsfälle beobachtet wurden. Eindeutige Beweise sind jedoch in der menschlichen Epidemiologie schwer zu erbringen, da viele Faktoren (Rauchen, Ernährung, Genetik, Umwelt) hineinspielen.
3. Natürliche vs. künstliche Strahlung: Missverständnisse und Grenzwerte
Strenge Regulierung künstlicher Quellen
Ein wesentlicher Diskussionspunkt ist, dass die Gesetzgebung weltweit künstliche Strahlung sehr viel strenger reguliert, während man die teils sehr hohe natürliche Hintergrundstrahlung (aus Gestein, Radon, kosmischen Quellen) faktisch nicht verbieten kann. Auch die Strahlenwerte in der Umgebung von Kernkraftwerken sind im Normalbetrieb so gering, dass sie im natürlichen „Rauschen“ oft nicht einmal eindeutig nachweisbar sind.
Grenzwerte und Einheiten
- Becquerel (Bq): Anzahl der Zerfälle pro Sekunde in einer Probe.
- Sievert (Sv): Maß für die biologische Wirkung ionisierender Strahlung. Schon 5 Sievert in kurzer Zeit gelten als tödlich. Millisievert (mSv) oder Mikrosievert (µSv) sind bei den meisten Alltagsbelastungen üblich.
- Vergleiche: Die Natur liefert jedem Menschen pro Jahr einige Millisievert. Eine Flugreise führt zu zusätzlichen Zehntelmillisievert. Gerade in Kurorten mit radonhaltigem Thermalwasser sind die Messwerte oft höher als anderswo – dennoch gelten sie als gesundheitsfördernd, was den Verdacht auf eine potenzielle Hormesis nährt.
4. Kernenergie, Abfälle und Mythen
Abgebrannte Brennelemente und Endlager
Ein zentrales Thema sind die Radioisotope, die in Kernreaktoren entstehen. Kurze Halbwertszeiten sind für die Umwelt nur kurzfristig problematisch, da sie relativ rasch zerfallen. Cesium-137 oder Strontium-90 mit Halbwertszeiten von rund 30 Jahren sind besonders kritisch, weil diese Zeitspanne menschlichen Lebenslängen nahekommt und sie sich im Körper anreichern können. Die oft gefürchteten langlebigen Stoffe wie Plutonium haben hingegen eine sehr lange Halbwertszeit, sind jedoch meist schwer wasserlöslich und werden vom Körper nur selten aufgenommen.
Nach einigen hundert Jahren zerfallen die meisten kurzlebigen Isotope erheblich, sodass das langfristige Risiko sich vor allem auf schwerbewegliche Alphastrahler beschränkt. Konzepte für Endlager orientieren sich u. a. an geologischen „Naturreaktoren“ wie in Oklo (Gabun), wo sich Uranlagerstätten vor 1,8 Milliarden Jahren von selbst für sehr lange Zeit räumlich stabilisiert haben.
Reaktorunfälle und Strahlung
- Tschernobyl: Dr. Rüegg besuchte selbst die Sperrzone und stellte fest, dass ein Großteil des Gebiets heute wieder bewohnbar wäre; lediglich einzelne „Hotspots“ und lokale Brennstoffsplitter sind hoch kontaminiert.
- Fukushima: Die radiologische Belastung ist aus Sicht vieler Experten im Vergleich zu beispielsweise Feinstaubbelastungen in Großstädten recht gering. Die größten Schäden in Fukushima entstanden vor allem durch das Erdbeben und den Tsunami sowie durch vorsorgliche (oft überzogene) Evakuierungsmaßnahmen.
Nuklearwaffen
Obwohl Atomwaffen eine schreckliche Zerstörung anrichten, haben sich die modernen Bombenkonzepte stark gewandelt. „Saubere“ Wasserstoffbomben hinterlassen weit weniger strahlenden Fallout als die frühen Kernwaffentests. Global betrachtet haben die rund 500 atmosphärischen Tests der Vergangenheit die natürliche Strahlungsbelastung nur minimal angehoben. Die sofortige tödliche Wirkung einer Explosion resultiert vor allem aus Druckwelle und Hitzestrahlung.
Vergleich mit anderen Risiken
Immer wieder betont Dr. Rüegg, dass Feinstaub weltweit eine deutlich höhere Gesundheitsgefahr darstellt als die zusätzliche Strahlung aus zivilen oder militärischen Nuklearanwendungen. Auch Rauchen, falsche Ernährung oder Verkehrsunfälle wirken sich statistisch massiv auf die Lebenserwartung aus, während ein normal betriebener Kernreaktor sich in einem Bereich abspielt, der weit unterhalb anderer Alltagsrisiken rangiert.
Kernenergies Zukunft
Die Schweiz erzeugt schon heute einen Großteil ihres Stroms CO₂-arm aus Wasserkraft und Kernkraft. Aktuell diskutiert man über den Bau kleiner modularer Reaktoren („Small Modular Reactors“), die unter anderem durch natürliche Konvektion weniger aufwendige Sicherheitssysteme brauchen. Angesichts steigender Material- und Kupferbedarfe für erneuerbare Anlagen könnte auf lange Sicht die hohe Energiedichte der Kernenergie wieder attraktiver werden.
In Deutschland wurden hingegen aus politischen und gesellschaftlichen Gründen sämtliche Kernkraftwerke stillgelegt und zum Teil bereits zurückgebaut. Aus technischer Sicht wäre es durchaus sinnvoll gewesen, die Anlagen einige Jahrzehnte im gesicherten Zustand stehen zu lassen, bevor man sie zerlegt, da die Strahlung im abgeschalteten Reaktorkern von selbst deutlich abnimmt.
5. Psychologie der Angst und gesellschaftliche Debatten
German Angst und kollektives Gedächtnis
Dr. Rüegg und Prof. Heindl diskutieren, warum gerade in Deutschland die Ängste vor der Kernkraft besonders ausgeprägt sind. Mögliche Erklärungen liegen in den traumatischen Erfahrungen zweier Weltkriege, wirtschaftlicher Krisen und Bombardierungen. Zudem sehen die Gesprächspartner eine starke Rolle von NGOs und Politik, die unter dem Schlagwort „German Angst“ gezielt auf unsichtbare Bedrohungen wie Strahlung setzen, weil sich damit intensive Emotionen wecken lassen.
Diskrepanz zwischen realen und gefühlten Risiken
Obwohl strenge Grenzwerte und umfangreiche Überwachung dazu führen, dass die effektiv gemessenen Dosen im Umfeld von Kernkraftwerken minimal sind, haftet der Radioaktivität ein Mythos des „absolut Gefährlichen“ an. In der gesellschaftlichen Debatte wird oft übersehen, dass andere Schadstoffe (Feinstaub, Chemikalien im Bergbau, Pestizide) global betrachtet enorm viel Leid und Todesfälle verursachen. Gleichzeitig können wir uns ein Leben ohne moderne Technologien kaum noch vorstellen.
Fazit
Das Gespräch zwischen Prof. Dr. Eduard Heindl und Dr. Walter Rüegg verdeutlicht die Komplexität des Themas Radioaktivität:
- Einerseits ist sie ein allgegenwärtiges, natürliches Phänomen, das der menschliche Körper dank hochentwickelter Reparaturmechanismen meist gut kompensiert.
- Andererseits führt vor allem die Assoziation mit Atomwaffen und Kernschmelzen zu starker, teils irrationaler Furcht.
- Die biologische und epidemiologische Forschung liefert Hinweise, dass niedrige Strahlungsdosen in manchen Fällen durchaus harmlos oder sogar positiv sein könnten (Hormesis).
- Im Vergleich mit Umweltgefahren wie Feinstaub, Rauchen oder falscher Ernährung fällt die zusätzliche Belastung durch Kernenergie und selbst militärische Tests wesentlich geringer aus, als oft wahrgenommen.
Nicht zuletzt ist deshalb ein nüchterner Blick auf alle Energieformen – inklusive ihrer Abfälle und Materialketten – sinnvoll, um realistische, faire und langfristig tragfähige Entscheidungen über unsere Energiezukunft zu treffen.
Lesetipp:
Dr. Walter Rüegg, "Zeitalter der Ängste: Aber fürchten wir uns vor dem Richtigen?"
Die vollständige Liste aller Energiegespräche finden Sie hier: https://energiespeicher.blogspot.com/p/energiegesprache-mit-eduard-heindl.html
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