Prof. Dr. Mario Liebensteiner im Energiegespräch
1. Einleitung: Höhere Strompreise und neue Herausforderungen
Das zentrale Ergebnis des Gesprächs zwischen Prof. Heindl und Prof. Dr. Mario Liebensteiner lautet: In den kommenden Jahren bis 2030 dürfte der Strompreis in Deutschland und Europa voraussichtlich deutlich höher liegen als vor der Energiekrise – etwa um den Faktor drei. Zusätzlich wird die Preisdynamik zunehmen, was zu einer stärkeren Volatilität führt. Dahinter stehen mehrere Ursachen:
- Wegfall günstiger Kraftwerke
Nach dem Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland und den geplanten Stilllegungen von Kohlekraftwerken entfällt ein Teil grundlastfähiger, verhältnismäßig preisgünstiger Stromerzeugung. - Steigende Brennstoff- und CO₂-Kosten
Die Kosten für Gasimporte sind nach der Abkehr von russischem Pipeline-Gas tendenziell höher, und die CO₂-Preise im europäischen Emissionshandel (EU ETS) dürften weiter anziehen. - Zunahme wetterabhängiger Erzeugung
Der Anteil von Wind- und Solarstrom steigt stark, was bei gleichzeitig fehlendem adäquatem Netzausbau zu kräftigen Preisschwankungen führen kann.
Liebensteiner betont, dass insbesondere die Volatilität des Börsenstrompreises – also starke Schwankungen zwischen sehr niedrigen (teilweise sogar negativen) und sehr hohen Werten – in Zukunft noch ausgeprägter sein werde. Für Unternehmen wie auch für Privathaushalte werde das größere Flexibilität bedeuten: Wer zum Beispiel Lasten verschieben kann oder eigene Speicherkapazitäten besitzt, wird Vorteile haben.
2. Marktmechanismen: Merit-Order, Börsenpreis und negative Preise
Ein zentrales Thema des Gesprächs ist das „Merit-Order“-Prinzip, das im öffentlichen Diskurs häufig kritisiert wird. Prof. Liebensteiner stellt jedoch klar, dass dies ein normales marktwirtschaftliches Verfahren ist, bei dem das zuletzt noch benötigte Kraftwerk mit den höchsten Grenzkosten den allgemeinen Börsenpreis setzt. Die wichtigsten Punkte:
-
Merit-Order als Standard
Ob Weizen oder Strom: In allen börslichen Märkten wird nach dem Grundsatz „von billig zu teuer“ angeboten. Das letzte, zur Bedarfsdeckung herangezogene Angebot bestimmt den Preis für alle Anbieter, was keinesfalls eine Strommarkt-Spezialität, sondern ein generelles Marktprinzip ist. -
Erneuerbare als Grenzkosten-Null-Technologien
Wind- und PV-Anlagen haben sehr geringe laufende Brennstoffkosten (die „Sonne schickt keine Rechnung“). Sie bieten daher zu niedrigen Preisen an und drücken so häufig das Strompreisniveau. Allerdings ist ihre Verfügbarkeit wetterabhängig – fehlt Wind oder Sonne, steigen die Preise, weil dann teure Reservekraftwerke (häufig Gaskraftwerke) zum Einsatz kommen. -
Negative Preise
Negative Strompreise entstehen zu Zeiten eines Überangebots, etwa wenn extrem viel Strom aus Wind- oder Solaranlagen produziert wird, während die Nachfrage gering ist und einige Kraftwerke (etwa Kohleblöcke) aus technischen Gründen nicht schnell heruntergefahren werden können. Dann erhalten Abnehmer Geld dafür, dass sie den Strom abnehmen. Allerdings profitieren davon in der Praxis weniger Haushalte als vielmehr Akteure im Großhandelsmarkt. -
Volatilität durch fluktuierende Erzeugung
Weil erneuerbare Energien kein Grundlastverhalten aufweisen, entstehen stark schwankende Preise – an windstarken Tagen mit geringem Bedarf tendieren die Börsenpreise nach unten, während sie in wind- und sonnenarmen Zeiten hochschnellen können.
3. Netzausbau, Kapazitätsmärkte und das Problem der Versorgungssicherheit
Wenn Kohle- und Kernkraftwerke vom Netz gehen und Gaskraftwerke oft nur wenige Stunden im Jahr laufen sollen, um Spitzenlasten auszugleichen, stellt sich die Frage nach Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit. Wesentliche Punkte:
-
Netzengpässe und Redispatch
Obwohl viel Strom aus dem windreichen Norden stammt, fehlen ausreichende Leitungen in den verbrauchsstarken Süden. Bei Überlastung müssen Windanlagen abgeregelt werden („Abregelung“), während man im Süden Kohlestrom anwirft. Das führt zu paradoxen Situationen, in denen trotz Überangebots im Norden teure und emissionsintensive Kraftwerke im Süden laufen. Ein grundsätzlicher Umbau des Marktdesigns in verschiedene Preiszonen wäre denkbar, ist politisch aber umstritten. -
Kapazitätsmarkt vs. Energy-Only-Markt
Gegenwärtig herrscht der „Energy-Only-Markt“: Ein Kraftwerksbetreiber verdient nur dann Geld, wenn er Strom produziert und verkauft. Gaskraftwerke, die nur wenige Tage oder Stunden laufen, müssten bei hohen Börsenpreisen ihre gesamten Fixkosten decken können, damit sich die Investition lohnt. Das würde extrem schwankende – bisweilen sehr hohe – Preise bedeuten. Aus politischen Gründen könnte ein „Kapazitätsmarkt“ eingeführt werden, bei dem Stromerzeuger eine Prämie allein für das Bereithalten (die Kapazität) erhalten. Dies verringert Preisextreme, ist aber weniger markteffizient und verursacht zusätzliche Kosten. -
Stromausfallrisiko und Versicherungsmodelle
In der Diskussion wurde auch erörtert, ob man den Blackout über Versicherungsmodelle in private Verantwortung legen könnte. Derzeit lösen jedoch staatliche Netzbetreiber und Regulierung diese Aufgabe. Für Großverbraucher wie Aluminiumwerke existieren bereits Entschädigungsmodelle, wenn sie den Verbrauch bei Engpässen drosseln („Demand-Side-Management“).
4. Klimapolitik, CO₂-Bepreisung und internationale Wechselwirkungen
Das Gespräch widmete sich außerdem der europäischen Klimapolitik: Ob CO₂-Handel oder CO₂-Steuer, ob Subventionen für erneuerbare Energien oder Effekte des sogenannten grünen Paradoxons – das Zusammenspiel von Markt und Regulierung ist hochkomplex.
-
EU-Emissionshandel und „Wasserbetteffekt“
Innerhalb des EU-ETS (Emissionshandelssystems) existiert ein oberes Limit (Cap) für die Gesamtmenge an Emissionen. Wer CO₂ verursacht, muss ein Zertifikat erwerben. Gleichzeitig führt jede zusätzliche freiwillige Emissionsminderung in einem Land nur bedingt zu einer Minderung auf EU-Ebene, da die frei werdenden Emissionszertifikate in anderen Sektoren oder Ländern genutzt werden können (Wasserbetteffekt). Freiwilliger Klimaschutz in Deutschland hat also innerhalb des EU-ETS nur begrenzte Wirkung. -
Grünes Paradoxon nach H.-W. Sinn
Global betrachtet kann ein sinkender Verbrauch in Europa den Ölpreis senken und damit die Ölnachfrage in anderen Weltregionen erhöhen, wenn das Angebot sich nicht entsprechend verringert. Dieses Phänomen spricht dafür, dass nationale Alleingänge wenig globale CO₂-Einsparungen bewirken, solange kein weltweit koordinierter Emissionspfad existiert. -
Kostendegression bei Solartechnik
Ein positiver Effekt des deutschen EEG-Systems war allerdings, dass die internationale Photovoltaik-Herstellung stark skaliert und die Preise für Solarzellen drastisch gesunken sind. Damit wird diese Technologie für Schwellen- und Entwicklungsländer erschwinglich. Allerdings ist unklar, ob und in welchem Ausmaß das allein die globale Energiewende beschleunigt, solange fossile Energieträger weiter verfügbar und preisgünstig sind. -
Rolle der Kernenergie
Während Deutschland aus der Kernenergie ausgestiegen ist, setzen Nachbarstaaten wie Frankreich oder Polen auf Neu- oder Ausbau von Atomkraftwerken. Auf dem europäischen Strommarkt könnte das den Börsenstrompreis tendenziell senken. Deutschland profitiert dann als Stromimporteur von preiswertem Atomstrom, ohne die Risiken der eigenen Kernkraftnutzung zu tragen. Langfristig jedoch bleibt die Frage der Endlagerung und der Akzeptanz bestehen.
5. Perspektiven: Vom Smart Meter bis zur zukünftigen Preisgestaltung
Smart Meter und flexible Tarife
Eine wesentliche Diskussion betrifft die Frage, wie Endkunden – insbesondere Haushalte – durch Preissignale zu einem zeitlich angepassten Stromverbrauch animiert werden können. Mit Smart Metern und dynamischen Tarifen könnte man Spitzenlasten glätten und mittags bei hoher Solarproduktion günstigen Strom verbrauchen, während abends oder an windstillen Tagen höhere Preise gelten. Dazu ist eine Anpassung der Netzentgelte nötig, denn derzeit machen Steuern, Abgaben und Fixkosten den größeren Teil des Strompreises aus, während die rein marktbasierten Energiekosten oft nur ein Viertel oder ein Drittel ausmachen.
Zunehmende Bedeutung von Speicher und Eigenversorgung
Um in Zeiten negativer oder sehr niedriger Preise Strom aufzunehmen und ihn bei hohen Preisen abzugeben, könnten Speicher – von Batteriespeichern bis zu potenziellen Wasserstoffanlagen – wirtschaftlich interessanter werden. Darüber hinaus besteht weiterhin Handlungsbedarf beim Netzausbau, um Transportengpässe zu beheben, sowie in der europäischen Koordination, damit grenzüberschreitende Lieferungen effizienter ablaufen.
Fazit
Das Gespräch zwischen Prof. Heindl und Prof. Dr. Liebensteiner verdeutlicht, wie stark die Energiewelt bereits im Umbruch ist. Obwohl erneuerbare Energien auf dem Vormarsch sind, wird der Durchschnittsstrompreis absehbar steigen, da flexibel einsetzbare Kraftwerke – vor allem Gas- oder später wasserstoffbetriebene Anlagen – die Versorgungssicherheit gewährleisten müssen. Die politischen Diskussionen bewegen sich zwischen Marktlösungen und staatlicher Regulierung, etwa über Kapazitätsmärkte und Subventionen. Für Verbraucher wie Industrie ist eine steigende Preisdynamik zu erwarten, die nicht nur Anpassungsdruck, sondern auch Chancen für innovative Geschäftsmodelle und Technologien schafft. Mittel- bis langfristig bleibt der Ausbau der erneuerbaren Energien, kombiniert mit Flexibilität und Speichertechnologien, der Schlüssel für eine bezahlbare und nachhaltige Stromversorgung – nur wird dies teurer und komplizierter, als noch vor wenigen Jahren angenommen.
Die vollständige Liste aller Energiegespräche finden Sie hier: https://energiespeicher.blogspot.com/p/energiegesprache-mit-eduard-heindl.html
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen