Prof. Dr. Matthias Bethge: Wie Maschinen lernen – und was das mit unserem Gehirn zu tun hat
Von der Physik zur Künstlichen Intelligenz
Matthias Bethge studierte Physik und Mathematik, promovierte in Bremen und forschte in Berkeley am renommierten Redwood Center for Theoretical Neuroscience. Heute ist er Professor an der Universität Tübingen und eine der führenden Stimmen in der KI-Forschung Europas. Sein Interesse an neuronalen Netzen begann zufällig: Ein Seminar zur „nichtlinearen Dynamik in neuronalen Systemen“ weckte sein wissenschaftliches Feuer. Von der Synapsenforschung ging es über Bildverarbeitung bis zur modernen KI.
Wie kommt die Welt in den Kopf?
Bethge beschreibt die grundlegende Frage seiner Forschung so: „Wie kommt die Welt in den Kopf?“ Dabei ist das menschliche Gehirn ein System von rund 100 Milliarden Neuronen, die in komplexer Weise Informationen verarbeiten. Besonders fasziniert ihn die Netzhaut, da man hier exakt messen kann, wie Lichtreize verarbeitet und weitergeleitet werden. Diese biologische Signalverarbeitung liefert Vorbilder für KI-Systeme. Anders als klassische Computer, die Informationen in klaren Schritten verarbeiten, arbeitet das Gehirn mit massiv parallelen, oft nichtlinearen Prozessen – und ist dabei erstaunlich effizient.
Lernen in Mensch und Maschine
Während KI-Modelle wie ChatGPT mit riesigen Datenmengen und der sogenannten Backpropagation lernen, verwendet das Gehirn andere Strategien. Trotzdem gibt es Überschneidungen: Lokale Lernregeln im Gehirn – etwa das sogenannte „Häppchenlernen“ – ähneln in Grundzügen dem maschinellen Training. Bethge beschäftigt sich intensiv mit „Continual Learning“: der Fähigkeit, ständig neues Wissen aufzunehmen, ohne das Alte zu vergessen. In dieser Disziplin ist das Gehirn der KI noch deutlich überlegen.
Sprache als Schlüsseltechnologie
Ein Meilenstein in der KI war die effektive Verarbeitung natürlicher Sprache. Bethge betont: Sprachmodelle wie ChatGPT haben durch Skalierung (mehr Daten, größere Modelle) eine neue Qualität erreicht. Besonders spannend findet er den Übergang von reiner Textverarbeitung zu Systemen, die Werkzeuge benutzen, Aufgaben selbstständig erledigen und mit ihrer Umwelt interagieren – sogenannte Agentensysteme. Diese Entwicklungen könnten auch unsere Gesellschaft transformieren.
KI, Gesellschaft und Verantwortung
Bethge sieht die Menschheit vor einer doppelten Herausforderung: Technologisch schreitet KI rasant voran, während gesellschaftliche Strukturen mit dieser Dynamik kaum Schritt halten. Besonders wichtig ist ihm die Frage, wie wir KI so gestalten, dass sie den Menschen unterstützt – etwa durch persönliche Assistenten, die unabhängig von kommerziellen Interessen agieren. Auch der Datenschutz, Bildung und ein fairer Zugang zu Technologie sind für ihn zentrale Themen.
Europa muss Verantwortung übernehmen
Angesichts geopolitischer Verschiebungen, etwa dem wachsenden Autoritarismus in den USA, sieht Bethge Europa in einer entscheidenden Rolle: „Wir müssen unsere Werte verteidigen – mit Technologie, Ideen und Zusammenarbeit.“ Das Tübinger Forschungsumfeld sei stark, aber er wünscht sich mehr private Investitionen und eine bessere Verknüpfung von Grundlagenforschung und industrieller Umsetzung. Der Brain Drain Richtung USA sei lange Realität gewesen – nun könnten sich neue Chancen ergeben, Talente zurückzugewinnen.
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Stichworte: Gehirn und KI, Lernen, neuronale Netze, Sprachmodelle, Europa und Technologiepolitik
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